Foto: Shanghai (Artifan/Shutterstock)
Der Aufstieg Chinas ist das bedeutendste wirtschaftspolitische Phänomen unserer Zeit. Nie zuvor in der Geschichte ist eine große Volkswirtschaft so rasant gewachsen. In den letzten sieben Jahren hat sich der Energieverbrauch verdoppelt, so dass China heute 20% der Energie weltweit verbraucht und 25% der CO2-Emissionen erzeugt.
Im Jahr 2009 überholte das Reich der Mitte die USA als weltgrößter Energiekonsument und Güterproduzent – eine Position, die es bis ins 19. Jahrhundert innehatte, bevor es zunächst von Großbritannien und dann von den USA abgelöst wurde.
Thesen
China ist zum Dreh- und Angelpunkt der internationalen Energieversorgung geworden. Vor diesem Hintergrund will dieser Artikel drei Punkte deutlich machen:
1. Über die Energiepreise und die Versorgungssicherheit Europas wird nicht mehr in erster Linie in Berlin, Brüssel, Washington, Riad oder Moskau entschieden, sondern in China.
2. Die chinesische Energiepolitik agiert einerseits unter komplexeren wirtschaftspolitischen Zwängen, hat aber andererseits noch mehr technologische Entwicklungsoptionen als Europa und die USA. Jeder Kurswechsel in China wird sich global überproportional bemerkbar machen, sowohl beim Energiemix als auch bei den Technologiepfaden, z.B. im Automobilsektor.
3. China und die EU stehen in den kommenden Jahrzehnten vor ähnlichen Herausforderungen, während die USA zusammen mit Kanada nahezu energieautark wird. Eine Regionalisierung der globalen Energieversorgung bahnt sich an, die vor dem Hintergrund knapper Energieressourcen eine verstärkte Kooperation zwischen der EU und Peking erfordert.
China als Dreh- und Angelpunkt der globalen Energieversorgung
Einige wenige Zahlen sollen den Stellenwert Chinas in der Energie- und Klimapolitik verdeutlichen. Selbst unter optimistischen Annahmen entfallen in den kommenden 25 Jahren auf China:(1)
- – 36% des zusätzlichen Primärenergieverbrauchs der Welt
- – 90% des zusätzlichen globalen Kohleverbrauchs
- – 90% der zusätzlichen globalen Ölimporte und
- – 57% des zusätzlichen globalen Ölverbrauchs
- – 40% der zusätzlichen globalen Gasimporte und etwa
- – 22% des zusätzlichen globalen Gasverbrauchs
- – 58% der zusätzlichen CO2-Emissionen.
Die Risiken fossiler Energieversorgung (Öl, Gas, Kohle) sind in den letzten Jahren nicht nur aus Sicht des Klimaschutzes stark gestiegen. Sie erzeugen zwar nach wie vor 87% der globalen Primärenergie (2), aber bei Öl und Kohle, in einigen Jahren auch bei Gas, fehlen Puffer und freie Kapazitäten, um unerwartete Störungen auffangen zu können. Die Preissprünge bei Öl und bei Kesselkohle waren erste Vorläufer der angespannten Versorgungssituation.
Dies wird von Jahr zu Jahr deutlicher werden, da Chinas Volkswirtschaft trotz ihrer Größe immer noch dynamisch wächst und Engpässe erzeugt. Plötzliche massive Dieselimporte, stark schwankende Kohleimporte und spekulatives Horten bei Preisverzerrungen sind typische Beispiele. Noch relevanter sind jedoch die längerfristigen Unsicherheiten:
China und Erdöl
Ironie des Fortschritts: In den überlasteten Großstädten Chinas bewegen sich die PKW genauso langsam wie die Fahrräder in der Mao-Ära. Verkehrspolitik und Städtebau zementieren die Ölnachfrage der Zukunft.
Der Schwerpunkt liegt nach wie vor beim Ausbau der Straßen und Flughäfen. Viele Städte wuchern planlos ins Umland, was die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erschwert. Der Weg zur automobilen Gesellschaft ist vorgezeichnet. Die Zahl der PKW hat sich in den letzten drei Jahren auf etwa 40 Millionen verdoppelt, aber noch immer ist die PKW-Dichte 12mal niedriger als in Europa.
Es ist jedoch praktisch ausgeschlossen, dass die globale Ölförderung jemals für eine volle Industrialisierung und Mobilisierung Chinas nach westlichem Modell ausreicht. Ein Bieterwettstreit wäre unvermeidlich, mit schwer kalkulierbaren außenpolitischen und ökonomischen Risiken.
Vor diesem Hintergrund wird in Peking überlegt, ob und wie sich der Ölbedarf schneller “deckeln” lässt, denn Ölmangel könnte zur Achillesferse der Wirtschaftsentwicklung werden. Die Zentralregierung setzt u.a. auf ein landesweites Schnellbahnnetz, das bereits heute einigen Fluglinien das Leben schwer macht.
Auch andere Faktoren werden dafür sorgen, dass der westliche Mobilitätsweg nicht einfach kopiert wird:
1. Der Fahrzeugpark ist sehr modern und die Benzinpreise sind hoch (höher als in den USA, niedriger als in Westeuropa).
2. In vielen Städten bringt der PKW weder Zeitnoch Kostenvorteile. Einige Metropolen verzögern bereits die Zulassung von Fahrzeugen, weil die Infrastruktur überlastet ist und aus Platzgründen auch nicht weiter ausgebaut werden kann.
3. Die extreme Einkommensungleichheit behindert das Wachstum des automobilen Mittelstands, der für Europa und die USA prägend ist.
4. Elektro-Zweiräder sind bereits weit verbreitet. Ihre Zahl wird auf über 100 Millionen geschätzt. Auch Elektro-PKW werden in einigen Jahren auf den Markt drängen.
4. Gekühltes Flüssiggas (LNG) eignet sich für schwere LKW, Busse und Binnenschiffe. Ähnlich wie die „Teapot“-Kleinraffinerien für Öl gibt es in China eine wachsende Zahle von LNG-Minianlagen. Interessante Märkte sind insbesondere die Flussschiffahrt auf dem Yangtze und Fischereiboote entlang der Küste.
5. Die Küsten- und Binnenschiffahrt kann aufgrund geografischer Vorteile erhebliche Marktanteile im Güterverkehr auf sich ziehen.
Es wäre also denkbar, aber keineswegs sicher, dass sich das Wachstum der Ölnachfrage in China, die aktuell bei 9,5 Millionen Fass pro Tag liegt, in absehbarer Zeit verlangsamt. Nimmt man beispielsweise an, dass sich der zukünftige chinesische Ölkonsum pro Kopf bei einem Drittel des aktuellen deutschen Durchschnittswertes stabilisiert, dann kommt man auf einen Gesamtverbrauch von 13-14 Millionen Barrel pro Tag. Das läge weit unter den bisherigen Mainstream-Prognosen.
China und Erdgas
China verbraucht derzeit mit 100 bcm ungefähr so viel Erdgas wie Deutschland. Das entspricht knapp 5% seines Energiemixes. Schon 2015 könnte der Verbrauch bei 250 bcm liegen, 2030 bei 450-500 bcm. Der politisch erwünschte Gasboom soll sich aus eigenen Erdgasquellen, LNG-Importen und Pipelinegas aus Russland und Turkmenistan speisen.
Die Gasimporte könnten so rasch ansteigen, dass ein großer Teil der russischen, zentralasiatischen, australischen und indonesischen Gasexporte von China absorbiert werden. Erdgas wird dann global teurer und könnte innerhalb weniger Jahre für Westeuropa preislich unattraktiv werden.
Einige Experten rechnen jedoch mit einer anhaltenden globalen „Gasschwemme“ und dauerhaft niedrigen Gaspreisen. Die Erschließung von Shale Gas (Schiefergas) und CBM (Kohleflözgas) könnte Erdgas über Jahrzehnte hinweg preislich attraktiv halten und damit sowohl der Kohle als auch den Erneuerbaren Energien Marktanteile abnehmen. Auch hier spielt China eine Schlüsselrolle.
Der Umfang der zukünftigen Gasimporte ist letztlich nicht vorhersehbar, da er politisch entschieden wird. Die chinesischen Schiefergasvorkommen sollen ähnlich umfangreich sein wie in den USA.(3) Hinzu kommen enorme Mengen an Flözgas aus den zahllosen Kohlebergwerken. Aber noch ist unklar, wieviel davon tatsächlich förderwürdig ist und wie schnell die Produktion ausgebaut werden kann. Die CBM-Förderung ist noch relativ gering und für Shale-Gas-Projekte laufen die ersten Ausschreibungen. Schon kleinere Abweichungen von den Planzielen werden die globale Versorgungsbilanz und die Erdgaspreise massiv beeinflussen.
China und Kohle
Kohle dominiert in Chinas Energiemix aus naheliegenden Gründen: Sie ist billig und reichlich vorhanden; der Bau von Kohlekraftwerken ist tausendfach erprobt und rasch möglich. Viele Provinzen verfügen über eigene Vorkommen.
Schon kleine Störungen im riesigen chinesischen Binnenmarkt, etwa durch eine Überlastung der Schienentransporte oder Verzerrungen im Preissystem, führen zu enormen Schwankungen des Importbedarfs. Das vergangene Jahr gab einen ersten Vorgeschmack, als der Import im Handumdrehen ein Volumen erreichte, das dem gesamten Kohleverbrauch Deutschlands entsprach.
Auch längerfristig ist die Lage unübersichtlich. Zwar werden sehr große Kohlereserven im Westen und Nordwesten vermutet, aber die Geschwindigkeit der Erschließung ist unklar. Zahlreiche neue Kohleminen sind im Bau, so dass vor 2015 wohl keine Engpässe bei der Förderung zu erwarten sind. Viele Experten gehen davon aus, dass die Förderung in den nächsten zwei Jahrzehnten sogar um weitere 50% gesteigert werden kann.
Mittelfristig stehen dafür die großen Kohlevorkommen in der Inneren Mongolei und auch in der westlichen Provinz Xinjiang zur Verfügung. Die Förderung in Xinjiang könnte nach chinesischen Schätzungen von 100 Millionen auf 1000 Millionen Tonnen pro Jahr ausgebaut werden. Xinjiang wäre dann der größte Kohleproduzent der Welt.
Der Transport der Kohle zu den Verbrauchszentren ist allerdings aufwendig, da die Schienenkapazitäten ausgebaut werden müssen. Eine größere Verbindung soll 2013 die Arbeit aufnehmen. Ergänzend werden die Verstromung vor Ort und leistungsfähige Übertragungsnetze geplant. Der Wassermangel in Xinjiang stellt jedoch ein großes Hindernis für diese Strategie dar.
Eine schnelle Erschließung in Xinjiang könnte die Weltkohlepreise drücken. Umgekehrt: Eine langsame Entwicklung würde dafür sorgen, dass viele ostchinesische Kraftwerksbetreiber und Stahlwerke auf billigere Importe zurückgreifen – mit entsprechenden Folgen für die Weltkohlepreise. Auch hier gilt also, dass die Weltenergiepreise von China abhängen.
China und die Verkehrstechnologie der Zukunft
Auch technologisch wird China viele Trends vorgeben. Das Land ist verkehrspolitisch flexibler als der Westen, da noch nicht alle Weichen gestellt sind.
Größe und Geschwindigkeit der chinesischen Investitionen bedeuten, dass dort die Lead Markets entstehen: Wenn sich China Richtung Elektromobilität bewegt, dann werden alle großen Automobilhersteller der Welt mitziehen, und damit auch deren Heimatmärkte. Wenn sich in China die Dieselhybridtechnik oder Erdgasantriebe durchsetzen sollten, würde das ebenfalls die Automobilmärkte weltweit prägen.
Im Moment sieht es danach aus, dass sich der Erdgasantrieb (CNG, LNG) weitaus schneller durchsetzen wird als die Elektromobilität.
Spielräume der chinesischen Energiepolitik
In China findet Energiepolitik in einem erheblich komplexeren Umfeld als in den westlichen Industrieländern statt.
1. Energiepolitik soll in erster Linie die Energieversorgung für die rasch wachsende Wirtschaft und die privaten Haushalte sicherstellen, ohne andere Ziele wie Preisstabilität, Versorgungssicherheit oder Umweltschutz zu stark zu gefährden.
In den letzten zehn Jahren wurden die Zielkonflikte immer dramatischer. Der Energiebedarf steigt schneller als zuvor, aber nur höhere Preise bieten den Produzenten ausreichende Anreize, das einheimische Angebot zu erhöhen. Das Ergebnis ist Inflation, die wiederum als Gefahr für die politische Stabilität betrachtet wird. Steigen die Binnenpreise, werden Energieimporte attraktiv, was wiederum die Versorgungssicherheit gefährdet und gleichzeitig die Steuerungsmöglichkeiten des Staates beschneidet.
2. Heterogene Preissteuerung: Die meisten Upstream- Märkte wie Kohle- oder Rohölförderung sind liberalisiert. Hier bilden sich die Preise relativ frei. In verbrauchernahen Märkten (Downstream) wie Haushaltsstrom, Erdgasheizung oder Benzin bedürfen die Preise hingegen staatlicher Genehmigung. Eine dritte Form sind die zahlreichen inoffiziellen oder historisch gewachsenen Versorgungsstrukturen, die außerhalb der Märkte und der staatlichen Preiskontrolle existieren.
Der planwirtschaftliche Einfluss erhöht einerseits die Steuerungsmöglichkeiten des Staates, führt aber andererseits immer wieder zu Friktionen. So entstehen Stromengpässe, wenn die liberalisierten Kohlepreise über den staatlichen Strompreisen liegen, denn der Stromversorger würde mit jeder Kilowattstunde Verluste produzieren. Ähnlich ist es bei Benzin und Diesel, sobald die staatlichen Preise unter die Rohölimportkosten der Raffinerien fallen.
3. Mit der Teilprivatisierung der großen Öl- und Gaskonzerne wanderte ein großer Teil der Fachkompetenz aus den Ministerien ab. Die Planungsbehörden der Pekinger Energiepolitik sind klein und haben einen schweren Stand gegenüber der Staatswirtschaft. Auch aus diesem Grund konzentrierte sich die Energiepolitik zu lange auf die Bereitstellung des Energieangebots statt die Entstehung der Energienachfrage zu begrenzen.
Erst unter Hu und Wen gab es energischere Versuche zur Kurskorrektur, vor allem mit industriepolitischen Instrumenten. Dazu gehört die Schließung ineffizienter Betriebe und eine höhere Produktivität in der Industrie.
4. Die Interessen Pekings und der Provinzen driften häufig auseinander. Hier spielen regionale und sektorale Profitinteressen, aber auch das riesige Entwicklungsgefälle zwischen den Provinzen eine Rolle. Während das reiche Shanghai saubere Luft und moderne Gaskraftwerke fordert, hängt das ökonomische Überleben ganzer Regionen im Norden und Nordwesten vom Kohlebergbau ab. Die Ziele der Fünfjahrespläne können daher oft nur mit zum Teil drastischen Adhoc-Maßnahmen der Zentralregierung wie z.B. durch massenhafte, vorübergehende Betriebsschließungen verwirklicht werden. Längerfristige Ziele lassen sich so aber nur schwer verankern.
Angesichts dieser enormen und sich rasch wandelnden Herausforderungen ist die chinesische Energiepolitik, gemessen an ihren eigenen Zielen, bislang sehr erfolgreich gewesen. Die Wirtschaft konnte ungehindert um 10 Prozent pro Jahr wachsen, ohne dass es zu mehr als vorübergehenden oder lokalen Engpässen gekommen wäre.
Dieser Erfolg hatte aber seinen Preis: Eine enorme ökologische Belastung und die Abhängigkeit von internationalen Energiemärkten. Eine erneute Verdopplung des chinesischen Energiekonsums in diesem Jahrzehnt ist kaum vorstellbar. Die Konsequenzen wären steil steigende Energiepreise, Ressourcenverknappung, Inflation und eine von der Bevölkerung immer weniger tolerierte Umweltbelastung. Teilweise sind die ökologischen Grenzen auch schon erreicht, wenn z.B. der Wassermangel in manchen Regionen den Bau weiterer Kohlekraftwerke unmöglich macht.
Energie wird allmählich zur Achillesferse der chinesischen Wirtschaftspolitik. Ohne eine vorausschauende Energieaußenpolitik und eine nachfrageorientierte Energiesparpolitik im Inland sind Preis- und Mengenkrisen vorprogrammiert.
Energie-Geopolitik
An die Stelle der früheren Energieautarkie tritt immer sichtbarer die Abhängigkeit von Energieimporten.(4) China ähnelt insofern immer stärker der EU. Hier schwinden die Öl- und Gasreserven rapide. Schon Ende des Jahrzehnts müssen in der EU 90% des Öls und über 80% des Erdgasbedarfs importiert werden.
Völlig anders stellt sich die Lage in den USA dar. Die schwächelnde Supermacht ist bei Kohle und Erdgas autark geworden. Die Ölimporte werden in den nächsten Jahren deutlich zurückgehen und können zunehmend aus dem benachbarten Kanada gedeckt werden.
Die EU und China brauchen also eine langfristig angelegte Energieaußenpolitik (5), die relevante Versorgungsrisiken berücksichtigt. Und sie müssen enger zusammenarbeiten, um eine politisch und ökonomisch kostspielige Rivalität zu vermeiden. Demgegenüber kann Washington unabhängiger agieren.
Die Beziehungen zwischen Peking und Brüssel/Berlin stehen allerdings vor neuen Herausforderungen. Bis vor kurzem waren die regionalen Überschneidungen gering: Weder für Kohle, noch für Gas gab es überlappende Bezugsregionen, sondern höchstens indirekte Preisimpulse vermittelt über die südafrikanische Kohle oder LNG aus Katar. Beim Öl ist der Weltmarkt wegen der geringen Transportkosten zwar stärker integriert, aber auch hier gab es nur in Westafrika und am Persischen Golf physische Überlappungen.
Ein Blick auf die Produktionsprognosen und Lieferverträge zeigt jedoch bereits die Konturen einer neuen Energie-Geopolitik:
1. Eine nordamerikanische Region mit den Vereinigten Staaten und Kanada. Die Region ist autark bei Kohle und Gas. Die Importabhängigkeit bei Öl geht rasch zurück.
2. Die EU wird stärker von Öl- und Gasimporten abhängig, insbesondere aus Russland, dem kaspischen/zentralasiatischen Raum, Nord- und Westafrika sowie dem Persischen Golf.
3. Chinas Energieimporte konzentrieren sich auf das ostasiatisch-pazifische Hinterland mit Indonesien, Australien, Ostsibirien und Zentralasien sowie ebenfalls den Persischen Golf und Westafrika. Mittelfristig könnte auch Kanada für Ölsande und Gas ein relevanter Lieferant werden.
Die EU und China müssen jedoch ihre Bezugsregionen ausdehnen. Die Zahl der Überschneidungen wächst dadurch. Dazu gehören Erdgas aus Turkmenistan, Öl aus Kasachstan, Kohle aus Südafrika, Öl aus Westafrika, Öl und Gas aus Russland, Gas aus Qatar und Öl vom Persischen Golf.
Neben Australien wird auch Russland für China immer wichtiger: Die russischen Ölexporte laufen bereits verstärkt Richtung Osten. Praktisch alle Vorkommen östlich von Westsibirien könnten von China bzw. dem Pazifischen Raum absorbiert werden.
Eine ähnliche Entwicklung bahnt sich beim Erdgas an: Die Preisverhandlungen über ostsibirische Gasexporte nach China gestalten sich zwar schwierig, werden aber zum Abschluss kommen, sobald das globale Überangebot an LNG (Flüssiggas) abgebaut ist. Russland verringert dadurch seine einseitige Abhängigkeit von den stagnierenden europäischen Absatzmärkten.
Selbst die großen russischen Offshore-Gasvorkommen in der Barents- und Karasee müssen nicht automatisch an das Pipelinenetz Richtung Westen angeschlossen werden. Wenn stattdessen LNG-Terminals gebaut werden und die Nordroute schiffbar wird, wird China ein potentieller Kunde.
Schlussfolgerungen
Diese Streiflichter sollen deutlich machen, dass jedes energiepolitische Konzept in Brüssel oder Berlin ohne eine Analyse der chinesischen Energiemärkte Stückwerk bleibt.
Insbesondere das Exportland Deutschland braucht mehr Expertise, um vorausschauend auf den energie- und verkehrspolitischen Kurs Chinas reagieren zu können. Außenpolitisch wird die Kooperation mit Peking immer wichtiger, da sich die Bezugsregionen für Öl, Gas und Kohle zunehmend überschneiden und damit Konfliktpotenzial erzeugen.
Eine frühzeitige Abstimmung und Kooperation sollte in beiderseitigem Interesse sein. Die Preisrisiken fossiler Energien sind deutlich gestiegen und sollten als Risikoprämien konzeptionell berücksichtigt werden.
Die Zukunft ist nur noch bis zu einem gewissen Grad offen: Während sich die Versorgungslage beim Erdöl sichtbar zuspitzt, sind die Entwicklungspfade bei Erdgas und Kohle weniger deutlich. Es wird vor allem von China abhängen, wie die Energiewelt in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts aussieht.
Autor: Steffen Bukold
Peking, 2011/2012
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Fußnoten :
(1) Bitte beachten, dass es sich hier um den NETTO-Zuwachs handelt, also das Saldo aus wachsenden und schrumpfenden Absatzmärkten. Die IEA rechnet in ihrem aktuellen Hauptszenario für die Jahre 2008-2035 („New Policies Scenario” des World Energy Outlook 2010, Paris 2010) damit, dass das Wirtschaftswachstum in China bis Ende des Jahrzehnts bei durchschnittlich 7,9% pro Jahr liegt. Danach sinkt es im Szenario 2020-2035 auf 3,9% p.a. Weiterhin wird angenommen, dass alle bereits beschlossenen energiepolitischen Programme weltweit wie geplant in die Tat umgesetzt werden.
(2) Die modernen Erneuerbaren Energien (EE) wie Wind, Solar etc. erzeugen 1,3% (ohne Wasserkraft). Allein der globale Zuwachs des Energieverbrauchs im Jahr 2010 (+639 mtoe) war vier Mal so hoch wie die Gesamtenergie, die global aus den EE (ohne Wasserkraft) bereitgestellt wurde (159 mtoe).
(3) EIA: World Shale Gas Resources: An Initial Assessment of 14 Regions Outside the United States, Washington 2011.
(4) Die Rohölimporte wuchsen 2010 um 18%, die Kohleimporte um 31%, die LNG-Importe um 24%. Das Bruttosozialprodukt legte um 10 Prozent zu, ebenso der Stromverbrauch. 2011 wird sich das Wachstum voraussichtlich abflachen.
(5) Die bislang in Berlin fehlt; vgl. dazu Friedemann Müller, der die weißen Flecken der deutschen Energiepolitik identifiziert : F. Müller, Reduzieren allein genügt nicht. Welche Energieaußenpolitik erfordert das neue deutsche Energiekonzept? (IP Heft November/Dezember 2010).
Mehr Informationen zu Chinas Energiemärkten:
China Energy Letter Nr.1
China Energy Letter Nr.2
China Energy Letter Nr.3
China Energy Letter Nr.4
China Energy Letter Nr.5